WEIBLICHE KRAFT

Meine Schwiegermutter und ich hatten schon unterschiedliche Auffassungen. Aber auf drei Dinge kann ich mich zu 100% verlassen und die liebe ich am allermeisten an ihr: sie liebt das Frausein, mit allem was dazu gehört. Es darf einem auch mal nicht so gut gehen, man muss sich dann nicht mal erklären, sondern kann einfach sein und selbst entscheiden, wann man wieder bereit für was auch immer ist. Ihr Haus ist ein Ort, in dem man ein Hallo und eine Umarmung zur Begrüßung bekommt. Drei Dinge, die ich von daheim nicht kenne. Deren fehlende Existenz und die Narben davon mir erst mit über 30 wirklich bewusst wurden. Die ich nachwievor nicht wirklich betrauert habe, denn die Einsicht, sich als Kind und Jugendliche zuhause nicht sicher gefühlt zu haben, tut weh. Noch mehr die Erkenntnis, dass es wirklich so war und nicht mehr aufzuholen ist und auch kein anderer Mensch – weder der Partner noch eine gute Freundschaft – diesen Missstand ersetzen kann. „Es ist nie zu spät, eine schöne Kindheit zu haben“ – an dem Spruch habe ich mich zwei Jahrzehnte festgekrallt. Das Herz voller Hoffnung, dass sich jemand „um mich kümmern wird“, obwohl ich längst erwachsen war. Schwachsinn. Eine Kindheit kann man nicht nachholen. Wohl aber ein schönes Erwachsensein. Dass ich „Kind sein darf, ohne harte Konsequenzen, wenn mal etwas nicht klappt“ – der Wunsch ist in Erfüllung gegangen. In meiner Ehe darf ich verpeilt und bekloppt sein, ohne dafür vernichtend kritisiert zu werden. Ich darf Filme schauen, ohne als langweiliger Nichtsnutz betitelt zu werden. Ich darf Makeup tragen, ohne Schlampe genannt zu werden. Ich darf Kleider tragen, ohne, dass jemand sagt, mit meiner Figur geht das nicht, ich solle zu ner Hose greifen, stattdessen bekomme ich sogar Komplimente dafür. Ich darf ohne BH rumlaufen, aber nur, weil ich das will und nicht weil mir niemand einen kauft, obwohl ich längst einen bräuchte. Ich darf einen Job verlieren, ohne dass gesagt wird, dass klar war, dass ich keine Ärztin oder Anwältin werde. Ich darf sein. Wir haben alle unser Päckchen zu tragen. Und wir dürfen alle die Narben betrachten und beweinen, so lang wir das brauchen, ohne uns zu rechtfertigen. Nur so kann man heilen.

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